Sozialer Schmerz und seine Folgen
"Wenn ein Angehöriger Liebeskummer hat, musst du ihn so behandeln, wie nach einem schweren Verkehrsunfall." (Matthew Liebermann, Gehirnforscher)
Für dein Gehirn macht es keinen Unterschied, ob du mit einer Nadel gestochen wirst, oder ob man dich beleidigt. Die gleichen Gehirnzellen reagieren und verursachen Schmerz.
Warum ist das so?
Menschen sind Bindungswesen. Von Anfang an. Das ist evolutionär so vorgesehen. Als Kind sind wir von den Eltern abhängig. Auch später sichert die soziale Herde, dass wir überleben können. Ist Bindung in Gefahr, macht das Stress. Die Amygdala, das Alarmglöckchen in unserem limbischen System, schlägt an. Denn das ist gehirnphysiologisch gleichbedeutend mit Schmerz.
Schmerz macht Stress – Stress macht Schmerz
Schmerzen sind an sich positiv. Sie lenken unsere Aufmerksamkeit auf etwas, das nicht in Ordnung ist und behoben werden muss. Wenn wir im Begriff sind, soziale Bindungen zu verlieren, hilft uns der soziale Schmerz zu erkennen, dass Gefahr droht. Dann können wir geeignete Schritte in die Wege leiten - und sei es, uns an die geforderten Normen anzupassen. Das passiert ganz automatisch schon in Lebensphasen, wo unser Intellekt noch gar nicht ausgeprägt ist. Wie für alle Schmerzen gilt auch hier: Wenn sie chronisch werden, machen sie unser Leben unangenehm bis unerträglich.
Sozialer Schmerz ist normal für uns Menschen
Wir Menschen erleben immer wieder einmal schmerzhafte Emotionen, die in Verbindung mit anderen Menschen stehen (Social pain). Dazu gehört alles, was uns von der Gesellschaft oder vertrauten Menschen trennen könnte. Abgelehnt werden, das Ende einer Liebesbeziehung, Einsamkeit und natürlich auch Trennung durch einen Todesfall gehören dazu. In einem anderen Beitrag kannst du mehr darüber lesen: Broken Heart - das gebrochene Herz
Normalerweise tut so etwas eine gewisse Zeit weh, wird aber dann im Laufe der Zeit ins Erleben integriert und bekommt damit eine zeitliche Einordnung: Es alles ist bereits vorbei, gehört zur Vergangenheit und tut immer weniger weh. Das Geschehene ist irgendwann nur mehr eine neutrale Erinnerung. Der Schmerz ist vorbei.
Es ist so, wie wenn wir uns mit einem Dorn stechen: Wir ziehen den Dorn heraus, bluten ein wenig. Nach ein paar Tagen ist alles wieder gut. Die Zeit heilt alle Wunden, sagt der Volksmund.
Für unser Gehirn gibt es keinen Unterschied zwischen körperlichem und emotionalem Stress. Es reagiert mit den gleichen Neuronen in komplexen Abfolgen. Besonders wichtig dafür ist eine bestimmte Region im Gehirn, der ACC.
Die Sozial-Schmerzneuronen im Gehirn: ACC (Anterior Cingulate Cortex). Hier macht es keinen Unterschied, ob man von einer Nadel gestochen oder beleidigt wird. Die Reaktion ist die gleiche. Laut dem Neurowissenschaftler Liebermann (2004) sollte man Angehörige mit Liebeskummer so umsorgen, wie nach einem schweren Autounfall. Ihr Erlebnis hat ähnlich starke Auswirkungen auf das Gehirn wie ein schwerer körperlicher Schock.
Wenn die Zeit die Wunden nicht heilt – Stress-Imprinting
Normalerweise können wir sozialen Schmerz gut verkraften und in unsere Lebenserfahrung sinnvoll integrieren. Das ist natürlicher Bestandteil eines menschlichen Lebens.
Unter bestimmten Umständen schaffen wir es jedoch nicht, die Belastung zu verkraften und die Erfahrungen vollständig zu verarbeiten.
Jede Art von Ablehnung, Liebeskummer, Ausgrenzung, Diskriminierung, Mobbing, Verrat kann dann zu einem nachhaltigen seelischen Eindruck (Stress-Imprint, Traumatic Impact) führen. Es erfolgt keine vollständige psychische Verarbeitung, die emotionale Ladung bleibt hoch. Bei jeder Gelegenheit kann die unverdaute Emotion getriggert werden und schmerzt selbst nach langer Zeit noch genauso wie beim ersten Mal.
Es ist so, als ob der Dorn noch immer im Finger stecken würde. Das Gehirn schickt weiter Schmerzsignale. die Stelle ist entzündet und bleibt sehr empfindlich. Von Heilung keine Spur. Die Gefahr dabei: irgendwann hat man sich vielleicht daran gewöhnt und merkt es gar nicht mehr, wie empfindlich man eigentlich ist. Man hat sich die eine oder andere Strategie zugelegt, die Wunde nicht mehr zu spüren. Doch wenn uns jemand auch nur ganz leicht an dieser Stelle berührt, fahren wir fast aus der Haut.
Die möglichen Konsequenzen: Blockierte Lebenslust, Leistungseinbußen, Krankheits- und Unfallneigungen, allgemeine Unlust, häufige Konflikte, emotionale Verstimmungen bis hin zu Depression, irrationalen Ängsten uvm.
Was die Wahrscheinlichkeit von Stress-Imprinting erhöht
Wenn wir bereits ein angespanntes Nervensystem haben, weil die Gesamtsituation sehr belastend ist, steigt die Gefahr einer nachhaltigen Stressprägung.
Wenn das nervale Erregungsniveau bereits angespannt ist (graue Linie) spricht man von Hyperarousal (Übererregung). In solchen Momenten ist man für zusätzlichen Stress besonders anfällig und hat weniger Resilienzvermögen als sonst. Der Sympathicus (autonomes Nervensystem) ist dominant und mit ihm eine Reihe an Stresshormonen wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol.
Stell dir vor, du hast gerade richtig Troubles in der Partnerschaft, mit den Kindern und im Beruf. Dann ist dein Stresspegel schon so hoch, dass bereits eine geringe Kritik vom Partner ausreicht, dass das Fass übergeht.
Sehr wichtig sind auch die Erlebnisse aus der Kindheit (biographischer Stress): Wenn wir immer schon unter belastenden sozialen Beziehungen gelitten haben, ist die Gefahr einer neuerlichen Verletzung umso größer. Das Stressniveau kann chronisch erhöht sein kann, man ist daher viel leichter irritierbar, als ein grundsätzlich ausgeglichener Mensch.
Sehr schwere Wirkungen nach sozialen Schmerzerlebnissen sind auch die Folge, wenn das Erlebnis besonders intensiv war (z.B. Trauma) oder uns vollkommen überrascht hat ("das hat mich auf dem falschen Fuß erwischt, damit konnte ich einfach nicht rechnen".
Als besonders gravierend wirkt sozialer Stress, wenn er durch vertraute Personen hervorgerufen wird, denen man derartiges nicht zugetraut hätte: Der Partner, von dem man niemals geglaubt hätte, dass er sowas tun würde. Die Eltern oder Geschwister, mit denen man immer stark und gut verbunden war. Aber auch Menschen aus Institutionen, die mit dem gesellschaftlichen Etikett des Vertrauens ausgestattet sind (z. B. Rettungs- und Sanitätspersonal, Polizei, Feuerwehr o.ä.) können durch "unsoziales Verhalten" zu nachhaltigen Stress Imprints führen.
Zwar spricht man immer davon, dass Enttäuschungen posititv zu bewerten sind, da sie immerhin eine Täuschung beenden und Realität schaffen. Mir erscheint das etwas zu kurz gegriffen. Aus meiner Sicht führen Enttäuschungen durch Vertrauenspersonen fast immer zu heftigen emotionalen Einschlägen, die meist nur mit fremder Hilfe in vertretbarer Zeit integriert werden können.
Was kann man tun, um seine seelische Gesundung zu unterstützen?
Eines vorweg: Handelt es sich um Symptome mit Krankheitswert im Sinne des ICD-10 ist professionelle ärztliche oder psychotherapeutische Hilfe unumgänglich. Allerdings ist nicht jede Befindlichkeitsstörung gleich eine Erkrankung. "Normaler" Liebeskummer oder lästernde Kollegen reichen schon aus, dass es einem nicht gut geht. Hier kann man auch mit Selbstcoaching gute Erfolge verzeichnen. Natürlich helfen in diesen Fällen auch gut ausgebildetete, psychologische Berater.
Auch sichere soziale Bindungen und Beziehungen können heilen und sollten bereits möglichst früh zur Verfügung stehen, damit es erst gar nicht zu einer Chronifizierung von Social Pain und den Folgeerscheinungen kommt. Anstatt die Menschen noch dafür zu tadeln, dass ihnen etwas Schlimmes zugestoßen ist ("kein Wunder, dass dir das passiert ist, so wie du dich immer benimmst..."), ist es von größter Bedeutung, Betroffene tröstend zu umsorgen. Geborgenheit und Sicherheit sind schon für sich alleine Medizin für die Seele.
Wir bei IKFO setzen für die Hilfestellung bei der Neutralisierung negativer sozialer Erfahrungen (und somit zur Förderung von Kohärenz) diverse Methoden ein: Gehirnhemisphären-Stimulation (REM-STIM), Aufstellungsarbeit, Voice Dialogue, Sesseldialoge, Entstressungsmethoden wie Kinesiologie, Tiefatem-Techniken uvm. werden von uns ständig (weiter-)entwickelt und angewandt, s. auch das Literaturverzeichnis.
Literatur(-empfehlungen):
Allman, John M. et al. (2001): The Anterior Cingulate Cortex - The Evolution of an Interface between Emotion and Cognition, Annals of the New York Academy of SciencesVolume 935, Issue 1, abgerufen am 03.10.2023
Bailey, Philip M. (1995): Psychologische Homöopathie. Die Persönlichkeitsprofile der 35 wichtigsten homöopathischen Mitteln. Trias
Besser-Siegmund, Cora & Siegmund, Harry (2015): wingwave-Coaching. Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Junfermann
Besser-Siegmund, Cora & Siegmund, Lola (2016): Neurolinguistisches Coaching. Sprache wirkt Wunder. Junfermann
Besser-Siegmund, Cora; Siegmund, Lola & Siegmund, Harry (2018): Systemisches Coaching mit der wingwave-Methode. Die faszinierende Welt der Emotions-Netzwerke. Junfermann
Blackstone, Judith (2018): Trauma und der befreite Körper. Die heilende Kraft des elementaren Bewusstseins. VAK
Brunnlandt, Ina (2020): Toxische Beziehungen. Emotionale Abhängigkeiten und Narzissmus in der Partnerschaft erkennen, verstehen uns schnellstmöglich überwinden. Ina Brunnlandt
Buhl, Thomas (2019): EMDR Selbscoaching in 6 Schritten. Wie wir uns selbst schnell von emotionalen Belastungen & Stress befreien und leichter unsere Ziele erreichen. Thomas Buhl
Eisenberger, N. I., Liebermann M. D. (2004): Why It Hurts to Be Left Out: The Neurocognitive Overlap Between Physical and Social Pain. Naomi Department of Psychology, University of California, Los Angeles. abgerufen am 04.10.2023
Hack, Ingrid (2011): Davon will ich mich befreien. Alte Muster endlich loswerden. Rowohlt
Jochims, Inke (2021): Meistere den Stress. Eine Einführung in die Polyvagal-Theorie. Inke Jochims
Kong Y., Zhang M., Zhang Y. (2019): Interaction between social pain and physical pain., Brain Science Advances. abgerufen am 03.10.2023
Köster, Rudolf (2003): Was kränkt, macht krank. Seelische Verletzungen erkennen und vermeiden. Centaurus
Kütter, Martina (2019): EMDR-Toolkit, 1. Band. Verarbeitung von Trauma und negativen Erfahrungen für Coaching und Therapie. Martina Kütter
Kütter, Martina (2019): EMDR-Toolkit, 2. Band. Justieren und Kalibrieren der positiven Selbstüberzeugung. Martina Kütter
Maté, Gabor, Dr. (2020): Wenn der Körper nein sagt. Wie verborgener Stress krank macht - und was sie dagegen tun können. Unimedica
Schubbe, Oliver (2016): Traumatherapie mit EMDR. Ein Handbuch für die Ausbildung. Vandenhoeck & Ruprecht
Stöger, Gabriele; Reiter Wilfried (2010): Alte Wunden heilen. Warum bestimmte Probleme wiederkehren und wie man sie in den Griff bekommt. mvgverlag
Ulsamer, Bertold (2011): Wie Sie alte Wunden allein heilen und neue Kraft schöpfen. Familienaufstellung ohne Stellvertreter. Kösel