Die Galle
Bei unserer letzten Reise durch die Welt der Organe, verbunden mit den sprichwörtlichen Volksweisheiten haben wir die „Superstoffwechseldrüsenmaschine“ Leber kennengelernt und versucht, einen erweiterten Blick darauf zu werfen.
Wir wissen, dass die Leber nicht in die Hose fällt, oder aus der Haut fährt, aber ihr schon die kleinen zarten Füßchen einer Laus zu schaffen machen können, sie alles stumm und ohne Schmerzen erträgt und wie in der Mythologie vom Leiden des Prometheus berichtet, sich unglaublich schnell regeneriert.
Aber wo ist das Ventil, wenn der Schmerz, die Wut oder der Druck zu groß werden? Richtig, da „spuckt man dann Gift und Galle“ oder „es steigt einem die Galle hoch“.
Die Produktion des Gallensaftes in der Leber beträgt täglich 600-800ml. Die Zusammensetzung der Galle und ihre Bildungsrate wechseln in Art und Menge der Nahrungszufuhr. Der pH-Wert liegt zwischen 7,4 und 8,5.
Die Gallenflüssigkeit enthält neben anorganischen Ionen vor allem Gallensäuren, Gallenfarbstoffe, Cholesterol, Phospholipide und einige Enzyme.
In den Gallengängen und insbesondere in der Gallenblase, die ein Fassungsvermögen von etwa 10-15ml besitzt, wird die Galle in ihrer Zusammensetzung verändert.
Die Gallensekretion wird von gastrointestinalen Hormonen und dem autonomen Nervensystem beeinflusst. Während der Verdauung nimmt die kontinuierlich durch die Leberzellen erfolgte Gallensekretion bis zum Doppelten zu. Während bei Nahrungsaufnahme die Galle direkt ins Duodenum (Dünndarm) fließt, gelangt sie bei Verdauungsruhe in die Gallenblase, wird dort eingedickt und gespeichert.
Die extrem bittere Galle dient körperlich der Verdauung, Aufspaltung von Fetten aus der Nahrung und Abführen verschiedener Stoffe in den Darm. Im übertragenen Sinne könnte man sagen, die Galle hilft auf körperlicher Ebene negative, „schwere“, „fette“, belastende Gedanken, Emotionen und Erfahrungen loszulassen, zu zerkleinern und abzugeben. Gelingt dies nicht, kann dies Gefühle der Bitterkeit und Wut auslösen, wir werden dann leicht gereizt, rachsüchtig und verbittert.
Dies könnte auch ein anderes Licht auf die Gallensteine werfen, die aus eingedickter Gallenflüssigkeit bzw. psychosomatisch betrachtet, aus gestauten Emotionen entstehen. Gallensteine werden je nach Auskristallisation des Hauptbestandteiles in Cholesterin, gemischte und Bilirubin (Pigment) Steine und je nach Lage in Gallenblasen und Gallengangsteine unterschieden.
5-25% der Bevölkerung leiden unter Gallensteinen, wobei Frauen zwei bis dreimal häufiger betroffen sind. Zunächst verursachen die Steine keine Beschwerden, rutschen sie allerdings in den Gallengang, wird der Abfluss in den Darm verhindert. Die Muskulatur im Gallengang versucht den Stein weiterzuschieben und kontrahiert rhythmisch, was zu Kolik artigen, sehr heftigen Schmerzen führt. Eher selten werden die Steine noch medikamentös aufgelöst oder zertrümmert, heute ist ein laparoskopischer Eingriff und die Entfernung der gesamten Gallenblase das Mittel der ersten Wahl.
Zur Zeit der „Vier- Säfte- Lehre“ war ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Blut, Schleim (Phlegma), gelber Galle (Cholera) und schwarzer Galle (Melancholia) entscheidend für Krankheit oder Gesundheit. Die Säfte regulieren den Stoffwechsel und das körperliche sowie psychische Gleichgewicht von Kälte, Wärme, Trockenheit und Feuchtigkeit. Dominiert eine Komponente, neigt man zum Typ des Sanguinikers, Phlegmatikers, Cholerikers oder ist melancholisch veranlagt.
Paracelsus nannte sie auch die färbenden Krankheiten, weil schon ein Blick auf die Gesichtsfarbe genügt, weiters lassen viele umgangssprachlichen Redewendungen auch heute noch mögliche Rückschlüsse erkennen:
„krebsrot werden…“, „blau anlaufen…“, „gelb vor Neid werden…“, „grün im Gesicht sein…“
Von diesen vier Säften werden auch heute noch drei Körperflüssigkeiten so bezeichnet, nur die schwarze Galle (die so in unserem Körper nicht vorkommt) nimmt hier eine düstere Sonderstellung ein.
Die schwarze Galle stellte man sich als „klebrigen, zähen, teerähnlichen Stoff von widerwertigem Geruch vor, dessen Dämpfe das Gehirn befallen und den Verstand verwirren.“ Ein Überschuss an schwarzer Galle führte dabei zur Melancholie, die aber nicht einfach „verstimmt“ bedeutete, sondern Wirkungen wie Tobsucht, Trübsinn, Raserei und sogar Epilepsie hervorrief, allerdings auch gepaart mit genialem Geist und z.B. künstlerisch herausragenden Leistungen. Heute spricht die Psychiatrie nicht mehr von Melancholie, sondern von Depression und - in Anlehnung auf das Wechselspiel von Genialität und Wahnsinn - von manisch-depressiven Episoden.
In der TCM werden Leber und Gallenblase dem Holz zugerechnet, das eine junge dynamische Kraft in den fünf Wandlungsphasen darstellt. Es steht für den Anfang, die Geburt, den Frühling und ist daher die Quelle der Ideen, Pläne und deren Umsetzung. Die Leber („der General“), als Planerin des Lebens, trägt in sich unseren Lebensplan, der dazu drängt, umgesetzt zu werden. Die Gallenblase ist die Helferin der Leber und sorgt dafür, dass wir die Kraft haben, unseren Plan in die Tat umzusetzen, wenn notwendig auch gegen Widerstände und Erschwernisse.
Doch bei all den Diensten, welche die Galle leistet, wo bleibt nun ihre kulturelle Wertschätzung? Blut, Schweiß und Tränen füllen Poesiebände, Sperma und Urin können ganze Abende mit gesellschaftlicher Konversation füllen, aber die Galle? Sie steht für die Wut, kein berechnender, kalter Hass, keine subtile Bösartigkeit oder Verleumdung, sondern nur impulsive, überlaufende Empörung, die einen „Gift und Galle“ spucken lässt. Warum ist die Galle so in Vergessenheit geraten? Ist der spontane, ehrliche, aus dem tiefsten Inneren emporsteigende und auch reinigende Wutausbruch heute nicht mehr erlaubt, verstanden oder akzeptiert? Würde ein diesbezüglich brechender Damm eventuell die „Steine“ fortspülen und die damit verbundene selbstzerstörerische Unterdrückung der Emotion und als Resultat dessen, die Umwandlung in weitaus schädlichere Gefühle wie Aggression, Hass und Rache verhindern? Hier sollte eine Lanze für die Galle und die Wut gebrochen und auf allen Ebenen von Körper, Seele und Geist ein heilender Prozess vollzogen werden. Die Galle, „giftig“, bitter, ungenießbar und trotzdem notwendig, heilsam und reinigend, könnte symbolisch als symbiotisches Bindeglied zwischen „Liebe und Hass“, Wut und Harmonie fungieren um das Leben in einen ausgewogenen Fluss zu bringen.
…selbst der Held Herakles nahm die Galle der Hydra mit ihren nachwachsenden Häuptern zur Hilfe, um seine Pfeile in tödliche Waffen zu verwandeln: „…endlich schlug Herakles der Hydra auch das unsterbliche Haupt ab, dieses begrub er am Wege und wälzte einen schweren Fels darüber. Den Rumpf der Hydra schlitzte er auf und in die giftige Galle tauchte er seine Pfeile, die seitdem unheilbare, tödliche Wunden schlugen!“
Mag. pharm. Ines Demel